Juristische Medien DE
Anmelden
JusMedien

14 Jahre ZPO – das wichtigste Gesetz für die Anwaltstätigkeit

Interview mit Michelle Lindholm, MLaw, LL.M., Rechtsanwältin, und Dr. iur. Andreas Lienhard, LL.M., Rechtsanwalt

Am 1. Januar 2025 hat die Schweizerische Zivilprozessordnung eine erste grössere Revision zur «Verbesserung der Praxistauglichkeit und der Rechtsdurchsetzung» erfahren. Im Frühjahr 2025 werden in Neuauflagen das Repetitorium Zivilprozessrecht von Michelle Lindholm und das Übungsbuch Zivilprozessrecht von Andreas Lienhard bei Orell Füssli Juristische Medien erscheinen. Dies haben wir zum Anlass genommen, mit der Autorin und dem Autor ein Interview zu führen. Dabei haben wir sie u.a. zu bedeutenden Anpassungen im Rahmen der Revision befragt. Weiterhin gehen Sie im Interview auf ihren Berufsalltag ein und geben Ratschläge für zukünftige Juristinnen und Juristen. Lesen Sie jetzt das spannende Interview und erfahren Sie mehr über das wichtigste Gesetz für die Anwaltstätigkeit. 

Am 1. Januar 2011 ist die eidgenössische ZPO in Kraft getreten und hat die 26 verschiedenen kantonalen Zivilprozessordnungen abgelöst. Wie beurteilen Sie die ZPO als Ganzes? Hat sie sich in der Praxis bewährt? 

ML: Die Einführung der eidgenössischen ZPO stellte einen bedeutenden Meilenstein in der Schweizer Rechtsentwicklung dar. Das Gesetz zeichnet sich durch seine Prägnanz, systematische Struktur und praktische Bewährung aus. Die seit der Einführung ergangene bundesgerichtliche Rechtsprechung hat einige wichtige Themen geklärt.

AL: Die ZPO ist eine gelungene Vereinheitlichung des Prozessrechts in der gesamten Schweiz. Sie hat sich als solche bewährt, auch wenn es – wie bei jedem Gesetz – noch die eine oder andere Baustelle gibt.

Nun, genau 14 Jahre später, erfährt sie ihre erste grössere Revision «Verbesserung zur Praxistauglichkeit und der Rechtsdurchsetzung», welche am 1. Januar 2025 in Kraft getreten ist. Welches ist in Ihren Augen die bedeutendste Anpassung im Rahmen dieses Revisionspakets?

ML: Viele Änderungen, die in dieser Revision Eingang gefunden haben, stellen lediglich eine Nachführung der bundesgerichtlichen Rechtsprechung dar, die jeder Prozessanwalt / jede Prozessanwältin kennen muss. Die Revision als Ganzes ist daher nicht bahnbrechend. 
Wirklich neu sind ein paar Kostenerleichterungen. Dazu gehört, dass der Kostenvorschuss nur noch die Hälfte und nicht mehr die gesamte Höhe der mutmasslichen Gerichtsgebühren ausmachen darf. Des Weiteren wird im Fall des Obsiegens der klagenden Partei der Kostenvorschuss zurückgezahlt anstatt verrechnet. Somit trägt diese im Ergebnis nicht mehr das Inkassorisiko. Wird ausserdem eine negative Feststellungswiderklage auf eine Teilklage erhoben, werden die Prozesskosten ausschliesslich auf der Grundlage des Streitwerts der Teilklage berechnet.
Spannend sind zudem einige Änderungen bezüglich handelsrechtlicher Streitigkeiten. Neu darf das kantonale Recht die englische Verfahrenssprache für internationale handelsrechtliche Streitigkeiten vorsehen. Ausserdem darf jetzt auch bei handelsrechtlichen Streitigkeiten die Schlichtungsbehörde angerufen werden. Da die Handelsgerichte jedoch selbst oft erfolgreich schlichten und über die Expertise verfügen, um handelsrechtliche Streitigkeiten zu beurteilen, ist die Einreichung eines Schlichtungsgesuchs wohl v.a. zur (kosteneffizienten) Verjährungsunterbrechung nützlich.

AL: Die bedeutendste Anpassung ist der erleichterte Zugang zum Gericht. So wurde insb. der Vorschuss für die Gerichtskosten, welchen weiterhin die klagende Partei zu leisten hat, grundsätzlich von 100% auf 50% der Gerichtskosten gesenkt. Zudem erhält die klagende Partei diesen Vorschuss vom Gericht (und nicht von der beklagten Partei) erstattet, wenn sie im Verfahren obsiegt.

Hätten Sie weitere Bestimmungen bzw. weitere Themen des Zivilprozessrechts einer Revision unterzogen? Welche?

ML: Persönlich bedauere ich die Ablehnung eines griffigen kollektiven Rechtsschutzes. Die Behauptung, die besagten vorgeschlagenen Änderungen führten zu einer «Veramerikanisierung», ist nachweislich unzutreffend. Die Revision würde demnach nicht zu exzessiven Schadenersatzforderungen führen. Gemäss dem Schweizer Obligationenrecht und der dazugehörigen Rechtsprechung ist der zu ersetzende Schaden genau definiert. Im Gegensatz zu den USA existieren in der Schweiz keine «punitive damages», d.h. kein Schadenersatz, der über den tatsächlich anfallenden Schaden hinausgeht. Darüber hinaus sähe die Revision keine Einführung von sogenannten «class actions» vor. Des Weiteren ist festzustellen, dass bei grenzüberschreitenden Sachverhalten Klagen häufig im Ausland eingereicht werden, wo kollektiver Rechtsschutz besteht. Dies ist in der überwiegenden Zahl der Länder der Fall, mit der bemerkenswerten Ausnahme der Schweiz. Streitigkeiten verlagern sich somit zukünftig einfach in andere Jurisdiktionen, was der Rechtsbranche schadet.

AL: Weiterhin bestehende Baustellen sind sicherlich der elektronische Verkehr mit den Gerichten sowie der kollektive Rechtsschutz bzw. Sammelklagen. Hier ist der Gesetzgeber dran. 

Sie üben seit einigen Jahren den Anwaltsberuf aus. Können Sie in knapper Form schildern, wie Ihr Berufsalltag aussieht? 

ML: Bei Quinn Emanuel, einer international tätigen Kanzlei mit Sitz in Zürich, habe ich die Möglichkeit, mit brillanten Kolleginnen und Kollegen an anspruchsvollen und hochkarätigen grenzüberschreitenden Mandaten zu arbeiten, was mir grosse Freude bereitet.
Der Anwaltsberuf ist intensiv und unvorhersehbar. Jeder Tag gestaltet sich ein wenig anders und man ist stets mit neuen Sachverhalten und rechtlichen Fragen konfrontiert, was den Beruf extrem spannend macht. Oft arbeite ich an rechtlichen Dokumenten, wie z.B. Rechtsschriften, Gutachten, Plädoyernotizen etc. Es gehört zu meinem Berufsalltag, im Team zu arbeiten und mich mit meinen Kolleginnen und Kollegen auszutauschen. Dabei ist das Ziel, sämtliche faktischen und rechtlichen Argumente für die Position unserer Klientinnen und Klienten zu finden und alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um die besten Ergebnisse zu erzielen. Ausserdem gehört auch die Kommunikation mit der Klientschaft, Behördenmitgliedern und externen Kolleginnen und Kollegen zum Berufsalltag. Im Übrigen organisiere ich Weiterbildungen und Konferenzen und nehme aktiv daran teil. Ich trage Verantwortung für Anlässe in meiner Funktion als Vizepräsidentin der Litigation Commission der International Association of Young Lawyers.

AL: Eine sorgfältige Analyse und Vorbereitung ist zentral für die erfolgreiche Anwaltstätigkeit. Daher lese ich viel und spreche oft mit Klientinnen und Klienten, um das juristische Problem zu verstehen und die optimale Lösung zu identifizieren.

Repetitorien und Übungsbücher sind in erster Linie für Jus-Studierende zur Prüfungsvorbereitung gedacht. Welchen guten Ratschlag können Sie zukünftigen Juristinnen und Juristen mit auf den Weg geben? Was sagen Sie einem/r Jus-Studierenden, der/die in Zukunft gerne die Anwaltstätigkeit ausüben möchte?

ML: Das Studium soll Freude bereiten, denn nur so trägt es zu einer langfristigen beruflichen Erfüllung bei. Ein ausgeprägtes Interesse am Lesen und Verfassen von Texten sowie analytisches und kreatives Denken sind dabei von entscheidender Bedeutung.
Ich habe während des Studiums in einem 60%-Pensum gearbeitet und dennoch innert Regelzeit den zweitbesten Abschluss gemacht. Gleichzeitig habe ich Vorlesungen und Tutorate der kunsthistorischen Fakultät besucht und eine Weinausbildung absolviert. Das war nur möglich, weil mich dies alles sehr interessierte und es Spass machte. Ausserdem war das Arbeiten nicht nur zum Geldverdienen, sondern v.a. auch für meine berufliche Entwicklung zentral. Während der Arbeit habe ich viel gelernt, was mich auf den Berufseinstieg nach dem Studium vorbereitete, und Mentorinnen und Mentoren gefunden, die mich auf meinem Weg förderten. Dafür bin ich sehr dankbar.
Im Übrigen sind natürlich gute Lehrmittel die Voraussetzung für ein gelungenes Studium und damit sind Studierende bei Orell Füssli bestens bedient.

AL: Im Grunde ist Jus die Wissenschaft über die Regeln in der Gesellschaft. Daher ist – neben dem gewissenhaften und sorgfältigen Studium – auch wichtig, nie den Draht zur Gesellschaft und zum Leben ausserhalb der Universität zu verlieren.


Liebe Frau Lindholm, lieber Herr Lienhard, wir bedanken uns bei Ihnen für das Gespräch.
 

Michelle Lindholm (ML), RA, MLaw, LL.M. (University of Cambridge), CAS in Arbitration, ist seit 2024 als Rechtsanwältin bei Quinn Emanuel Urquhart & Sullivan (Schweiz) GmbH tätig.

Andreas Lienhard (AL), Dr. iur., RA, LL.M., CAS in Arbitration, arbeitet als Rechtsanwalt bei Pestalozzi Rechtsanwälte in Zürich; per 1. Januar 2023 wurde er zum Partner von Pestalozzi Rechtsanwälte befördert.

Das könnte Sie auch interessieren