Im April 2023 ist in Erstauflage das Repetitorium zum Gesundheitsrecht von Claudia Seitz erschienen. Dies hat der Orell Füssli Verlag zum Anlass genommen, mit der Autorin ein Interview zu diesem Thema zu führen. Darin geht Frau Seitz u.a. auf die systembildenden Grundlagen und Strukturen des typischen Querschnittsrechtsgebiets Gesundheitsrecht und die in den letzten Jahren stark gestiegene Bedeutung dieses Rechtsgebiets in der juristischen Ausbildung und Praxis ein. Zudem beleuchtet sie weitere relevante gesundheitsrechtliche Fragen, wie z.B., ob die Schweiz auf die Covid-Pandemie ausreichend vorbereitet war. Lesen Sie jetzt das spannende Interview und bleiben Sie somit up-to-date im Gesundheitsrecht.
Frau Seitz, das Gesundheitsrecht ist ein Querschnittsrechtsgebiet. Was wird darunter verstanden?
Das «Gesundheitsrecht» als solches ist nicht exakt definiert. Es umfasst vielmehr eine Vielzahl von Regulierungen auf verschiedenen Ebenen des nationalen, europäischen und internationalen Rechts. Auf der Ebene des internationalen Rechts wird es z.B. stark durch die Biomedizinkonvention geprägt, während es auf der Ebene des nationalen Rechts eine grosse Anzahl von Bundesgesetzen und kantonalen Erlassen umfasst. Teilweise wird das nationale Recht durch das EU-Recht geprägt, an welchem sich das Schweizer Recht orientiert und es auch z.T. autonom nachvollzieht. Auch wenn eine abschliessende Definition des Gesundheitsrechts nicht möglich ist, können darunter gleichwohl alle Rechtsmaterien gefasst werden, welche den Schutz von Leben und Gesundheit zum Ziel haben. Durch die grosse Bandbreite der Regulierungen, die es damit umfasst, kann es als Querschnittsrechtsgebiet – sowohl auf horizontaler als auch auf vertikaler Ebene – bezeichnet werden.
Es ist feststellbar, dass das Gesundheitsrecht in den letzten Jahren, nicht nur im universitären Bereich, stark aufgewertet wurde. Worin sehen Sie die Gründe?
Die Gründe für eine stetige Zunahme der Bedeutung des Gesundheitsrechts, welche sich auch im universitären Bereich widerspiegelt, sind vielfältig und liegen insbesondere in der sich laufend veränderten Lebenswirklichkeit sowie in neuen gesellschaftlichen Herausforderungen bis hin zur grundlegenden Transformation medizinischer Möglichkeiten begründet. Innovationen in der Biotechnologie und Medizin und die damit verbundenen neuen Chancen und Risiken, der demografische Wandel und steigende Kosten im Gesundheitssektor, gesellschaftliche Entwicklungen sowie ein sich veränderndes Patienten- und Konsumentenleitbild stellen das Recht stetig vor neue Aufgaben, die von einer Anpassung des geltenden Rechts bis hin zur Notwendigkeit einer Neuregulierung reichen. Dies führt dazu, dass das Recht ständig vor neue Herausforderungen gestellt wird – sehr oft hinkt es aber der Lebenswirklichkeit hinterher. Gleichwohl bedarf es eines passenden Rechtsrahmens, um Grundrechte zu wahren, Chancen und Risiken miteinander abzuwägen und Rechtssicherheit zu schaffen.
Welches sind zurzeit gesundheitsrechtliche Themen, bei denen in naher Zukunft eine Änderung der Rechtslage zu erwarten ist bzw. die im politischen Diskurs heute eine wichtige Rolle spielen?
Aufgrund der Dynamik und der in vielen Bereichen des Gesundheitsrecht sich stellenden neuen Herausforderungen kann diese Frage nicht abschliessend oder abstrakt beantwortet werden. Im Hinblick auf die medizinische Versorgung vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und der steigenden Kosten im Gesundheitssektor stellen sich zunehmend Fragen des Zugangs zu medizinischer Versorgung und der Finanzierbarkeit des medizinisch Möglichen, die beispielsweise auch Fragen der Kostenerstattung nach dem Krankenversicherungsrecht umfassen. Innovationen in der Medizin, wie etwa im Rahmen der personalisierten Medizin und der Arzneimittel für neuartige Therapien, brauchen ebenso einen angemessenen Rechtsrahmen, wie die neuen Möglichkeiten der CRISPR/Cas-Technologie (Genschere als molekulares Werkzeug) oder der Genomsequenzierung und -analyse. Besondere Herausforderungen stellen sich insbesondere auch durch neue Entwicklungen aufgrund der Digitalisierung und der Nutzung von Gesundheitsdaten sowie des Einsatzes der künstlichen Intelligenz im medizinischen Bereich. Diese werfen verschiedenste neue Fragen auf, welche das Recht – und auch Bereiche des Gesundheitsrechts – in naher der Zukunft vor grosse Aufgaben stellen wird. Schliesslich war nicht zuletzt die Covid 19-Pandemie ein «Testfall» für das geltende Epidemierecht, was möglicherweise zu einem Diskurs über die Anpassung des geltenden Rechts führen kann.
Wie stark beeinflusst das internationale Gesundheitsrecht unser schweizerisches Recht? Werden in Zukunft globale Regelungswerke wichtiger?
Das internationale Gesundheitsrecht beeinflusst das schweizerische Recht bereits, beispielsweise durch die Biomedizinkonvention des Europarats. Zudem zeichnen sich auch einzelne Bereiche des Gesundheitsrechts durch eine starke Angleichung an das EU-Recht aus, wie beispielsweise das Lebensmittel- und Gebrauchsgegenständerecht, welches im Rahmen der letzten Revision in weiten Teilen autonom nachvollzogen und an das EU-Recht angepasst wurde. Grundsätzlich stehen weitere internationale Regelungswerke vor der Herausforderung, dass sich im internationalen Vergleich viele Bereiche des Gesundheitsrechts durch unterschiedliche nationale Regulierungen auszeichnen, wie etwa im Bereich der Fortpflanzungs- oder der Transplantationsmedizin. Dies steht einer einheitlichen Regelung auf internationaler Ebene entgegen.
Vor drei Jahren hatte Covid-19 die ganze Welt im Griff. Die Krankheit hat mit ihren Folgen bis heute den Alltag und die Gesellschaft stark verändert und jede und jeden Einzelnen auf irgendeine Weise geprägt. Denken Sie, dass die Schweiz auf gesetzlicher Ebene genügend auf ein solches Ereignis vorbereitet war?
Die Prävention und die Bekämpfung von Infektionskrankheiten stellen originäre und grundlegende Aufgaben des Staats dar. Der Schutz vor bestimmten übertragbaren Krankheiten zählt zu den ältesten Regulierungen im Gesundheitsrecht, die weit bis in die Seuchenbekämpfung vergangener Jahrhunderte reichen. Das Umfeld, in welchem Infektionskrankheiten auftreten und die öffentliche Gesundheit gefährden, hat sich jedoch in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt. So führen etwa die zunehmende Mobilität der Bevölkerung, die fortschreitende Urbanisierung und insbesondere auch klimatische Veränderungen dazu, dass Infektionskrankheiten, welche bislang nur in bestimmten Regionen vorkamen, nunmehr auch in anderen Regionen der Welt auftreten. Diese Entwicklung war einer der Gründe für die Totalrevision des geltenden Epidemierechts mit einer Neuregelung der Kompetenzen von Bund und Kantonen. Auf der Grundlage des revidierten Rechts war die Schweiz grundsätzlich gut auf die Pandemie vorbereitet. Auf rechtspolitischer Ebene sollte jedoch überlegt werden, ob das derzeit geltende Recht hinreichend für die weitreichende Einschränkung zahlreicher Grundrechte im Pandemiefall ist, wie es während der Covid-19-Pandemie zu beobachten war. Ebenso sollte darüber nachgedacht werden, wie verschiedene Rechtspositionen im Pandemiefall miteinander in Einklang gebracht werden können. Dies wirft schwierige Fragen auf, die vom Impfobligatorium zum Schutz vulnerabler Gruppen bis hin zur Triage reichen. Eine rechtspolitische Diskussion im Hinblick auf künftige Pandemien wäre daher bereits im Vorfeld künftiger Pandemien wünschenswert.
Noch kurz zum neu erschienenen Repetitorium Gesundheitsrecht: Wie kann das Buch beschrieben werden? Was zeichnet es besonders aus?
Das Gesundheitsrecht ist auf nationaler, europäischer oder internationaler Ebene zunehmend vor neue Herausforderungen gestellt. Als dynamisches Querschnittsrechtsgebiet umfasst es eine fast unübersehbare Fülle von Rechtsnormen und Rechtspraxis dazu. Dies begründet einerseits die Faszination dieser Rechtsmaterie, wirft aber gleichzeitig die Schwierigkeit auf, eine Konzentration auf das Wesentliche vorzunehmen. Dies hat auch das Werk entsprechend geprägt. Es ist der Herausforderung nachgekommen, den Stoff einerseits präzise zu fassen und ihn andererseits verständlich zu vermitteln und Zusammenhänge aufzuzeigen. Es zeichnet sich durch einen sehr aktuellen Überblick über einzelne Gebiete des Gesundheitsrechts mit seinen wichtigsten Regulierungen und einer Auswahl der Rechtsprechung aus. Die konzise und verständliche Darstellung wird zudem durch zahlreiche Übersichten und Grafiken visuell unterstützt. Es eignet sich somit für alle am Gesundheitsrecht Interessierten – für Studierende wie auch für Praktiker gleichermassen.
Liebe Frau Seitz, wir bedanken uns für das Gespräch.
Claudia Seitz, Prof. Dr. iur., M.A. (King´s College London), Rechtsanwältin, Professorin für Öffentliches Recht, Europarecht, Völkerrecht und Life Sciences-Recht an der Privaten Universität im Fürstentum Liechtenstein (UFL), Gastprofessorin an der Universität Gent und Lehrbeauftragte an den Universitäten Basel und Bonn.